Hörbuchtipp: Die Träume anderer Leute von Judith Holofernes
Fast 10 Stunden Hörbuch – in 1,5 Tagen durchgehört. Working Mums ahnen, das könnte ein absolutes Qualitätssiegel sein: In einer autobiografischen Achterbahn, geht es mit einer der prägendsten Sängerinnen der Nullerjahre, durch Höhen und Tiefen einer außergewöhnlichen Heldenreise.
Warum unbedingt als Hörbuch hören? Hörbücher sind perfekte „Nebenbei-Medien“. Ihr könnt beim Hören spazieren gehen oder Euren Haushalt machen. Für mich persönlich steht und fällt jedes Hörerlebnis jedoch mit der Stimme. Jackpot! Sprecherin Nora Tschirner hat als ehemalige MTV-Moderatorin die „Wir sind Helden-Ära“ live miterlebt und bringt durch ihre eigene Geschichte (Filmtipp: The Mopes) die dafür essentielle Tiefe als Basis mit. Das Faszinierende: Schon ab den ersten Minuten habe ich nicht mehr Nora gehört, sondern hatte gefühlt Judith im Ohr. Ich bin gespannt, wie es Euch beim Hören geht.
Steckbrief
Judith Holofernes (*1976) wurde als Sängerin der deutschen Indie-Band Wir sind Helden Anfang der Nullerjahre bekannt. Nach vier erfolgreichen Alben, diversen Chart-Platzierungen und unzähligen Live-Aufritten – vom Clubkonzert in London bis zum Headliner auf Festivals – pausiert die Band seit 2012. Seitdem ist sie als Solokünstlerin (Bücher, Musik, Podcast, etc.) kreativ und aktiv auf der Crowdfunding-Plattform Patreon zu finden. Mit ihrem Mann (dem ehemaliger Schlagzeuger der Band) Pola Roy und ihren zwei Kindern lebt sie in Berlin-Kreuzberg. Sie ist praktizierende Buddhistin, liebt Tiergedichte und die Bildzeitung überhaupt nicht.
„Müssen nur wollen?“ Darum geht es
Der Hörbuch-Titel „Die anderer Träume Leute“ lässt es vermuten: Es geht um weniger wollen. Und dabei viel mehr wollen. Nämlich das, was man selber möchte. Hört sich einfach an, ist es aber nicht.
Judiths fast magisches Talent, Gefühle in Lieder zu konservieren, überträgt sich direkt in ihren Erzählstil. Sie gibt sensible, schlaue und schmerzhafte Einblicke in wilde Zeiten voll großer Träume. Und eine immer größer werdende Zerrissenheit, zwischen starken Botschaften im Außen, im völligen Kontrast zu den immer lauter werdenden falschen Freunden Pseudo-Perfektionismus und Gefallsucht, im Inneren. Man muss wahrscheinlich ein Stein sein, um sich davon nicht berühren zu lassen.
„So toll, wie Du das alles hinkriegst. Und ich kann mir das gar nicht vorstellen.“ „Zurecht kannst Du Dir das nicht vorstellen. Es ist beinahe unmöglich!“
Aus Podcast Salon Holofernes mit Tim Raue
Wie cool war das denn? Die absoluten deutschen Indie-Helden zu sein, um dann auch noch als Band-Paar mit seinen zwei kleinen Kindern auf Tour zu gehen! OK und wie cool war es wirklich? Jede (Lebens-)Geschichte versteht man eben erst richtig, wenn man die Hintergründe kennt.
Der Inhalt der ersten Solo-Single „Liebe Teil 2 – Jetzt erst recht“ passt zum Beispiel perfekt in jeden Familienblog. Wir sind Helden – täglich! Mit dem Hintergrundwissen zur Veröffentlichung der Single, schwingt bei mir auf jeden Fall jetzt auch tiefer Sympathie-Schmerz mit.
Vereinbarkeit und Elternsein schwingen als Themen in der Autobiografie also ganz natürlich mit. Im Zentrum steht jedoch etwas viel Fundamentaleres: Und zwar die eigenen Grenzen erkennen und verteidigen, sowie die alte Helden-Frage „Muss ich immer alles müssen was ich kann?“ Die ich mir übrigens selbst seit längerem stelle. Der Song Nichtsnutz (Link YouTube) bietet hier übrigens schon mal wunderbare Impulse.
„Gekommen um zu bleiben!“ Die Autorin
Künstlerin, Rebellin, Mutter, Heldin und Poetin. Judith Holofernes ist alles und noch viel mehr. Die Rolle als unerreichbare Ikone, hat sich nach dem Hörbuch jedoch für mich aufgelöst. Was bleibt? Ein wunderbarer Dreiklang aus Reflektions-Superheldin, Lebensreise-Samurai und Gefühls-Künstlerin. Interessanterweise glaube ich, der heutigen Judith würde das sogar viel besser gefallen. Trotzdem wünsche ich mir sie natürlich insgeheim weiterhin als Rudelführerin meiner Frauen-Generation.
Alles auf Anfang. Mit ihrer klaren Eigenwilligkeit, der bewusst offenen Verletzbarkeit und dem unaufhaltsamen Gestaltungsdrang, hat sie sich inzwischen auf der Crowdfunding- Plattform Patreon einen eigenen Raum für Kunst und Community geschaffen. Hat sie sich damit aus ihrer eigenen Zwickmühle und Zwängen einer ganzen Branche, vielleicht sogar Gesellschaft, befreit?
Judith möchte schon lange nicht mehr „Stimme ihrer Generation“ sein. Zugleich klingt sie mit ihrer besonderen Besonderheit ganz schön in mir nach. Vor allem in Bezug auf die Themen, die uns als (Eltern-)Generation tagtäglich beschäftigen. Denn egal wie individuell wir alle sind, wir sind doch alle irgendwie auf einer gemeinsamen Mission. Was meint Ihr?
„Bring mich nach Hause“. Mehr über Judith – es lohnt sich, versprochen
- Hörbuch: Judith Holofernes – Die Träume anderer Leute
- Podcast-Interview: Judith Holofernes im Hotel Matze
- Podcast-Interview: Judith Holofernes bei Eltern ohne Filter (BR)
- Judiths Podcast: Salon Holofernes – Folge 3 mit Tim Raue
„Ist das so?“ Disclaimer
Diese Rezension ist offensichtlich völlig subjektiv. Das muss so. Denn Judiths Texte begleiteten mich schon fast 20 Jahre durchs Erwachsenwerden. Ich bin als Teil der GenerationX – durch MTV & VIVA geprägt – völlig umkommentiert auf Social Media („Ich sag nur Buffalos & Röcke über Jeans“) – mit vermeintlich grenzenlosen Möglichkeiten aufgewachsen. Niemand kam in der Zeit an Judith und den Helden vorbei. Ich war mittendrin. 2003 beim ersten Konzert, als selbst das gesetzte Münchner Publikum erst zu einem Lebensgefühl verschmolz und dann fast die Bühne sprengte. Danach in jeder einzelnen Liedzeile, die mich gleichzeitig rebellischer, verwundbarer, mutiger und nachdenklicher machte.
In emotionalen Hochphasen meiner Quarterlife-Crisis, verbot mir mein damaliger Freund sogar die Helden-Songs, weil sie einfach „alle Schleusen bei mir öffneten“. Funfact: Er ist jetzt übrigens mein Mann und an solche „liebevollen Verbote“ halte ich mich natürlich auch weiterhin …. nicht.
Noch immer kann ich zu einigen Liedern entweder sofort die ganze Welt erobern, oder heulen wie ein Schlosshund. Wie praktisch, falls die Midlife-Crisis demnächst an meine Türe klopft.